Vom Erwachen zum Nirvana und zurück: Die 88 Tempel von Shikoku
Dies ist ein Bericht über die Shikoku 88 Pilgerreise. Der Beitrag ist mein eigener und steht in keinem Zusammenhang mit den Meinungen oder Positionen von Kim Dojo.
Hintergrund
Kūkai, weit bekannter unter dem Ehrentitel Kōbō Daishi (774–835), war ein japanischer Mönch, Gelehrter, Dichter und der Gründer der Shingon-Schule des esoterischen Buddhismus. Nach Studien und Praxis in China führte er komplexe rituelle Formen, Mantras, Mudras und Mandala-Visualisierungen nach Japan ein und prägte damit die religiöse Landschaft des Landes nachhaltig. Sein Leben ist von Legenden durchzogen und viele Orte auf der Insel Shikoku werden mit seinen Reisen, Praktiken und Wundertaten in Verbindung gebracht. Er wird bis heute nicht nur als historische Gestalt, sondern auch als fortwährende spirituelle Gegenwart verehrt.

Der Shikoku Pilgerweg

Titel: Shikoku‑Pilgerweg Karte.png Autor: Lencer Lizenz: GNU Free Documentation License (GFDL) Version 1.2
Der Shikou Pilgerweg umfasst 88 Tempel und wird häufig als Reise durch vier spirituelle Abschnitte bezeichnet, die in der Praxis und in der Selbsterfahrung miteinander verwoben sind: Erwachen, Läuterung, Vertiefung der Praxis und das Loslassen (manchmal kurz als Erwachen, Busse, Praxisvertiefung und Nirvana bezeichnet).
Zu Beginn steht das Erwachen — das Aufbrechen aus dem Alltäglichen und das bewusste Betreten eines Weges. In der Phase der Läuterung setzen Pilger Busse, Reue oder das gezielte Abtragen innerer Lasten ins Zentrum; durch wiederholte Tempelbesuche, Rituale und das Rezitieren wird dieses Loslassen verkörpert. Die dritte Phase ist die Vertiefung der Praxis: Meditation, Rezitationen und das bewusste Einüben von Aufmerksamkeit und Mitgefühl verankern die Erfahrung. Die abschließende Phase des Loslassens oder des Strebens nach Nirvana steht weniger für ein einmaliges Ziel als für die andauernde Orientierung weg von Anhaftung hin zu innerer Freiheit — dabei bleibt Kūkai als spirituelle Gegenwart Weggefährte und Referenzpunkt.
Ein zentrales Element, das Pilger an vielen Tempeln verbindet, ist das Rezitieren des Herz‑Sutras (jap. Hannya Shingyō). Dieses kurze, philosophisch dichte Sutra fasst die Lehre von der Leerheit (śūnyatā) zusammen — die Einsicht, dass Erscheinungen keine eigenständige, von Bedingungen unabhängige Substanz besitzen. Für Pilger bedeutet das Herz‑Sutra nicht nur abstrakte Lehre, sondern praktische Orientierung: beim gemeinsamen Rezitieren im Tempel wird die Erfahrung von Vergänglichkeit, Nicht‑Anhaftung und der Möglichkeit innerer Befreiung unmittelbar fühlbar. In der rituellen Abfolge — Stempelsammlung im Pilgerheft, Gaben, Gebete und das Singen oder Sprechen des Herz‑Sutras — wird die intellektuelle Lehre zu gelebter Praxis. So verbinden sich Kūkai-Verehrung, die vier Abschnitte der Pilgerreise und das Herz‑Sutra zu einer spirituellen Erfahrung, in der geschichtliche Tradition, persönliche Wandlung und gemeinschaftliche Rituale ineinandergreifen.
Über die Jahrhunderte hat sich das Pilgern auf Shikoku von einer streng klösterlichen Praxis zu einer breiten Volksfrömmigkeit entwickelt, die heute sowohl spirituell Suchende als auch kulturell Interessierte anzieht. Ob jemand die gesamte Route über mehrere Wochen geht oder nur einzelne Etappen erlebt, bleibt jeder selbst überlassen. Die Verbindung zu Kūkai verleiht dem Weg jedoch eine zusammenhaltende Sinnstiftung. Wer den Henro beginnt, tritt zugleich in eine lange Tradition des Suchens, Erinnerns und Ritualisierens ein, in der persönliche Wandlung und die Gegenwart eines grossen Lehrers untrennbar verbunden sind.
Erfahrungen
Wir machten die Pilgerreise mit dem Fahrrad. 1400 km, 18’000 Höhenmeter und 88 Tempel. Wer zu Fuss pilgert, geht 90 % der Strecke auf Asphalt. Viele Pilger nehmen für Teilstrecken öffentliche Verkehrsmittel oder absolvieren die ganze Pilgerreise organisiert per Bus. Das sind Gruppen von Japanern, die aussteigen, ihre Pilgerstäbe aus einer Art Schirmständer nehmen und die Tempelrituale ausführen. In der Zwischenzeit geht die Tourguide schwer bepackt mit den Pilgerbüchlein ins Stempelbüro (Nokyo sho). Im Pilgerbüchlein werden die Stempel der besuchten 88 Tempel gesammelt. Als Nachweis und Erinnerung.
Links der Stempel von Tempel 1 und rechts der abschliessende Stempel, wiederum vom Tempel 1. Während der letzte Abschnitt der Shikoku Pilgerreise dem Nirvana gewidmet ist, landet man beim Abschluss wieder bei Tempel 1, dem Erwachen.


Planung
Es bedurfte einiges an Planung mit Hilfe von Komoot und viel Lesen. Zum Glück erwies sich Komoot bezüglich der Beschaffenheit der angegebenen Routen als zuverlässig. Unterkünfte buchten wir zuerst 3 Tage voraus, gegen Schluss am Vortag. Spontan ist in Japan schwierig. Weil Westler den Ruf haben, kurzfristig abzusagen, wird bei Reservierungen nachgefragt, wo man sich gerade befindet. Englisch kann nicht erwartet werden. Ein wenig Japanisch hilft oder man verwendet die Phrasen aus dem Shikoku Japan 88 Route Guide. Zusammen mit dem Henro Helper sind dies die unerlässlichen Instrumente für das Weiterkommen. Es gibt sogar ein Help Desk für Pilger in Schwierigkeiten.
Unterkünfte
Weiter hilft eine Facebook Henro Gruppe. Dort sind Listen mit Unterkünften zu finden. Wir haben in Familienherbergen (Minsokus) wie auch in Ryokans in japanischen Zimmern übernachtet und wurden mit traditionellem Essen bestens versorgt. Ebenso sind Business Hotels zu empfehlen, da preisgünstig und mit Morgenessen.
Früher gab es auf Shikoku einige Tempelunterkünfte. Corona hat deren Anzahl stark reduziert. Eine Übernachtung in einer Tempelherberge (Shukubo) ist ein Erlebnis. Wer will, kann an einer Morgen- oder Abendzeremonie teilnehmen.
Henro
Ein Pilger ist ein Henro. Bei der örtlichen Bevölkerung ist das Pilgern hoch angesehen und Pilger werden als O Henro San bezeichnet, was eine ehrenvolle Bezeichnung ist. Wir waren selten mit der weissen Pilgerkutte unterwegs, die uns als Pilger gekennzeichnet hätte. Hatten wir sie an, wurden wir regelmässig mit «Osettai», kleinen Geschenken, bedacht. Einmal wurden wir von der Polizei gestoppt. Sie wollten wissen, ob alles in Ordnung sei und hielten uns später noch einmal an um uns mit Prospekten und Kartenmaterial zu versorgen.
Mit dieser Willkommenskultur ist auch eine Verpflichtung verbunden. Sich so zu verhalten, dass man die Einheimischen nicht brüskiert. Über die Verhaltensregeln in Japan gibt es viele informative Webseiten.
In der Vorstellung der Pilger ist Kūkai immer mit dabei, in der Form des Pilgerstabes. Auf den weissen Pilgerwesten heisst es denn auch: «2 Personen».
Beim Tempel 88, am Ende des Pilgerweges, deponieren die Pilger ihre Stäbe, auf denen oft das Herz Sutra aufgedruckt ist.

Die Tempel
Einige der Tempel ähneln sich. Bei genauerem Hinsehen hat jeder seinen Charakter. Sobald man die Schwelle am Eingangstor überschritten hat, stellt sich ein Gefühl von Ruhe und Gelassenheit ein. Die Welt bleibt draussen.

Im Tempel findet man Schöpfkellen zum Händewaschen, einen Glockenturm, Haupttempel (Hondo) sowie einen Tempel, der dem Gründer (in Shikoku Kūkai ) gewidmet ist. Und, für Pilger nicht unwichtig, Toiletten sowie oft vor oder im Tempel die obligaten Getränkeautomaten.
Es ist den Pilgern überlassen, wie viele der Rituale sie vollziehen. Eines davon ist, im Haupt- und Nebentempel ein “Osamefuda” zu hinterlassen. Darauf schreibt man Datum, Namen und Alter. Auf der Rückseite kann ein Wunsch aufgeschrieben werden. Die Osamefuda werden von Pilgern auch als Vistenkarte und Dankeschön für Osettai verwendet.


In den Tempeln sind Tafeln aufgestellt, die auch nicht japanisch sprechenden Pilgern die Orientierung ermöglichen.

Landschaft
Die Pilgerreise führt durch Städte, Dörfer, dem Meer entlang und immer wieder in die Berge. Viele Tempel sind erhöht gelegen. Das ist zuweilen anstrengend, wird dafür mit Aussicht belohnt. Generell ist die Landschaft in Shikoku ausserhalb der Städte wild und weitgehend naturbelassen. Wir sind Affen, Schlangen, Spinnen und Vögeln begegnet. Dörfer leiden unter Landflucht. Die jungen Leute zieht es in die Städte. Als Folge sind viele Häuser unbewohnt und beginnen zu verfallen.
Japanische Vorstädte erinnern an das Amerika der 50er Jahre. Da passt die Haupternährungsquelle der Pilger tagsüber bestens ins Bild. Weitere Möglichkeiten sind FamilyMart und 7‑eleven.


Noch nicht fertig
Der traditionelle Abschluss der Shikoku Pilgerreise ist ein Besuch auf dem Koya-San. Hier ist Kūkai begraben. In der Vorstellung des Shingon Buddhismus meditiert Kūkai noch heute in seinem Mausoleum und darf deshalb nicht gestört werden. Die Pilger berichten Kūkai über die Erlebnisse während der Pilgerfahrt und bedanken sich für den guten Ausgang.
Gleichzeitig ist Koya-San einer der Startpunkte eines weiteren Pilgerweges, dem Kumano Kodo.
Abschliessend einige Eindrücke. Vielleicht wecken sie bei Euch die Lust auf mehr.









































































