Karate und Form

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Bild: Lac Vert (1834 m) im Val­lée Étroite, Départe­ment Hautes-Alpes, auf dem GR5 vom Gen­fersee ans Mit­telmeer.

An der Lan­gen Nacht der Museen fand ich in der Ausstel­lung “Trinkkul­tur — Kul­tur­getränk” im Völk­erkun­de­mu­se­um der Uni Zürich einen Text der in zweier­lei Hin­sicht zu Karate passt.

Ein­er­seits, weil er eine mögliche Erk­lärung gibt, warum es manch­mal beim Trainieren leer im Kopf wird.

Ander­er­seits, weil eben, wenn es dann mal wieder nicht klappt, der zweite Teil des Textes zeigt, dass man for­mvol­len­det scheit­ern kann. Und Scheit­ern scheint irgend­wie im Karate-Do einge­baut, damit man weit­er wach­sen soll…
Ver­wen­dung des Textes mit fre­undlich­er Genehmi­gung des Muse­ums für Völk­erkunde.

Shi­ki soku ze kû
kû soku ze shi­ki

(Form ist Leere
Leere ist Form)
Aus dem Japanis­chen Text des Herz-Sutras

Diese Formel repräsen­tiert wie kein ander­er Text jenen Kerngedanken, aus welchem das ästhetis­che Empfind­en Japans erwuchs, dem das Unge­sagte, der leere (Bild-)Raum nicht als Man­gel und selb­st Unzulänglichkeit nicht als Makel erscheinen. Sie spricht nicht von Dual­is­mus eso­ter­isch­er oder sprich­wörtlich­er Machart demzu­folge der Weg nach Erre­ichen der Tal­sohle wieder ansteigt und Gegen­sätze sich anziehen, oder davon, dass Hochmut vor dem Fall kommt und dass sich liebt, was sich neckt. Sie besagt nur, was sie sagt:

Form ist Leere / Leere ist Form.

Der Text ist Teil eine Rez­i­ta­tion, die eng mit dem Zer­moniell des Zen-Bud­dhis­mus ver­bun­den ist und wie alle sprach­lichen Zeug­nisse des Zen weniger den Intellekt anspricht als vielmehr eine Prax­is anregt, etwa die der spez­i­fisch japanis­chen Trinkkul­tur mit ihren Regeln und Förm­lichkeit­en und deren voll­ständi­ger Auflö­sung schliesslich im Rausch — und mit ihren Gefässen.

Der jesuit­is­che Mis­sion­ar João Rodrigues lebte im 16. Jahrhun­dert mehrere Jahrzehnte lang in Japan und beobachtete dort, dass hochgestellte Per­sön­lichkeit­en bei feier­lichen Trinkan­lässen schmuck­lose, unge­bran­nte Trinkge­fässe bil­lig­ster Machart ver­wen­de­ten — ein Umstand, den er der Macht alter Gewohn­heit­en zuschreibt. Er beschreibt, wie man sich vor dem Trinken zuerst die Lip­pen benet­zen muss, um nicht am unge­bran­nten Ton der Trinkschale kleben zu bleiben, und wie zuweilen der Rand ein­er solchen Schale beim Trinken abbricht und etwas von dem Bier ver­schüt­tet wird, worauf sich der Trink­ende lächel­nd entschuldigt und das ver­schüt­tete Getränk aufwis­cht, während ihm ein neues Trinkschälchen gere­icht wird. Was vielle­icht weniger den Mächt­en alter Gewohn­heit­en geschuldet, son­dern ein­er vergnügten Wertschätzung der Unvol­lkom­men­heit und Misslin­gen zu ver­danken ist, denen es wiederum for­mvol­len­det zu begeg­nen gilt.